"Industrie 4.0 ist eine Revolution, die die 2020er-Jahre bestimmen wird. Sie wird ganze Geschäfts­mo­delle und die Industrie weltweit verändern."

- Joe Kaeser | Vorstandsvorsitzender Siemens AG


Industrie 4.0 – Simula­ti­ons­tech­niken und Digita­li­sierung

Die vierte industrielle Revolution

Die Digitalisierung hat unseren Alltag in vielen Lebensbereichen durchdrungen. Noch schnell das Wetter in der Smartphone App checken, das Online-Formular für die Versicherung ausfüllen, den Friseurtermin online ausmachen – zwei Drittel der Deutschen sind täglich online1. Die „Digital Natives“, also jene junge Generation, die mit den vielfältigen Möglichkeiten des Internets aufgewachsen ist, unterscheiden kaum mehr zwischen virtueller und realer Welt. Die rasante Digitalisierung der Gesellschaft beeinflusst auch die Industrie und Wirtschaft. Der Begriff Industrie 4.0 ist längst in aller Munde. Technische Grundlage hierfür sind intelligente und digital vernetzte Systeme. Die Digitalisierung soll alle Phasen des Lebenszyklus des Produktes umfassen – von der Idee eines Produkts über die Entwicklung, Fertigung, Nutzung und Wartung bis hin zum Recycling – und so die gesamte Wertschöpfungskette optimieren. Damit der Traum von der smarten Produktentstehung wahr wird, forschen Professor Herbert Baaser und Professor Klaus Kiene von der Technischen Hochschule Bingen an der Digitalisierung und Simulation von Werkstoffen und Bauteilen.

Die Zielsetzung

Die Idee ist es, einen digitalen Zwilling eines Bauteils im Computer zu erstellen. Mit dieser Abbildung sollen Eigenschaften wie Verformungen, Spannungen und Dehnungen simuliert und so das Verhalten des realen Bauteils in im Betrieb und unter Einsatzbedingungen vorhergesagt werden – noch bevor es als Prototyp oder in Serie gefertigt wird. „Wie groß, wie dick, wie fest muss das Bauteil konstruiert werden, um beispielsweise einer bestimmten Kraft standzuhalten?“ – solche Fragen werden so schon in einer frühen Entwicklungsstufe am Rechner einbezogen. Darüber hinaus soll das sogenannte Reverse Engineering es ermöglichen, das fertige Bauteil zu jedem Zeitpunkt zu optimieren. Es handelt sich also um eine Entwicklungsschleife zur kontinuierlichen Verbesserung.

Digita­li­sierung und Simula­ti­ons­tech­niken an der TH Bingen

Besonders deutlich wird die Bedeutung von Simulationen in der Produktentwicklung am Beispiel von Fahrzeug-Crashtests. Wurden früher noch Dutzende Autos an die Wand gefahren, sparen sich heute viele Automobilhersteller in der Entwicklungsphase die teuren Tests. Stattdessen können digitale Simulationen das Verhalten von Bauteilen sehr exakt virtuell darstellen. Genau dieses Prinzip verfolgt Professor Baaser an der TH Bingen. Er betrachtet jedoch nicht das komplette Auto, sondern fokussiert sich auf einzelne Bauteile, wie einen Faltenbalg im Antriebsstrang eines PKWs. „Man möchte bestimmte Dinge im Rechner abbilden, um ein möglichst genaues Bild des Bauteiles zu erhalten, insbesondere hinsichtlich Kraft-Verformungskurven, seiner Steifigkeit oder Haltbarkeit. Beispielsweise: Kann das Bauteil mit einer bestimmten Kraft belastet werden, bevor es kaputtgeht? Hält dieses Bauteil vielleicht zehn Jahre den Belastungen oder auch der Bewitterung stand? Ist es vielleicht sensibel gegen Ozonangriffe oder Öle? All diese Dinge versuchen wir abzubilden“, erklärt Herbert Baaser.

Vorteile des digitalen Produktentstehungsprozesses

Simulationstechniken sind in vielen Bereichen nicht mehr wegzudenkende Hilfsmittel der Ingenieurinnen und Ingenieure. Den größten Vorteil sieht Professor Baaser in Kosteneinsparungen bei der Produktentstehung. Mit den Möglichkeiten der Simulation wird die Produktion mehrerer Prototypen überflüssig. Maschinen-, Werkzeug-, Materialkosten oder Kosten für die Arbeitszeit der Ingenieure werden so reduziert. „Wenn man einen großen Strich drunter macht, ist die Entwicklung eines Bauteiles, das wir parallel im Rechner mitgeführt haben und wo wir von Anfang an Schwachstellen ausgebügelt haben, viel kostengünstiger als wenn man in den Prototypen geht und fünf oder 20 Prototypen fertigen muss und tausende Euro in jedes Werkzeug steckt,“ ist Herbert Baaser überzeugt. Auch die Zeitersparnis bei der Entwicklung im Rechner ist enorm: „Wenn ich ein gutes Modell im Rechner habe, kann ich über Nacht verschiedene Versionen gegeneinander laufen lassen und am nächsten Morgen entscheiden – das hat etwas gebracht, das hat weniger etwas gebracht. Dort bin ich schon gut unterwegs und kann dann entscheiden, welche dieser Ideen gebe ich jetzt wirklich auf ein Werkzeug oder gehe damit tatsächlich in die Produktion.“ Für die Unternehmen bedeutet das: Durch die Zeiteinsparung verschaffen sie sich einen Vorteil gegenüber Wettbewerbern. Gleichzeitig ist das Endprodukt weniger fehleranfällig. Das Spannungsverhältnis zwischen einer möglichst langen Lebensdauer des Bauteils und einer möglichst kostengünstigen schnellen Produktion können die Ingenieure so ins Gleichgewicht bringen.

Vorgehen

Wie gelingt es nun also, ein Bauteil im Rechner abzubilden und Vorhersagen über seine Eigenschaften sowie seine Lebensdauer zu treffen? Zuerst wird der Werkstoff des Bauteils in einer Prüfmaschine untersucht. Daraus erhält die Arbeitsgruppe um Professor Baaser Ergebnisse über bestimmte Eigenschaften, beispielsweise Kraft-Weg-Kurven. „Wenn man diese Kurven sieht, hat man meist schon eine Intuition, wie ein entsprechendes Modell dazu aussehen kann. In der Regel versucht man dieses Modell möglichst einfach zu entwickeln. So wie ein Haushaltsgummi, den man nur in eine Richtung zieht und misst, wie viel Kraft man braucht, um ihn auseinander zu ziehen.“ 

„In der Regel versucht man dieses Modell möglichst einfach zu entwickeln.“

Als nächstes wird das Modell in eine dreidimensionale Gleichung übertragen. Die große Herausforderung im nächsten Schritt ist, diese Formel in einen Rechnercode umzuwandeln. Nun kann das Team am Rechner Simulationen durchführen und das Bauteil so lange optimieren, bis es reif für einen Prototyp ist.  Auch hier kommt moderne Technik zum Einsatz: Der Prototyp wird mit einem 3D-Drucker hergestellt. Hat das Bauteil trotz der bisherigen Simulationen im Rechner noch Schwachstellen, wird es gescannt und kann nun weiter am digitalen Abbild verbessert werden.

Entwicklungsstand

Eine wirklich „smarte“ Produktion im Sinne von Industrie 4.0 ist nur möglich, wenn eine vollständige Vernetzung und digitale Weitergabe der Daten entlang des Produktlebenszyklus erfolgt. Hierzu müsste an jeder Stelle in der Fertigung, im Verkauf, beim Recycling etc. ein Datenkabel verlegt sein. Das ist jedoch noch Zukunftsmusik. Auch die Kommunikation funktioniert momentan nicht reibungslos. „Sie müssen die Daten verarbeiten können, diese müssen irgendwo zusammenlaufen und interpretiert werden. Das sind Herausforderungen, denen müssen wir uns in den nächsten Jahren stellen“, weiß Herbert Baaser. Im Rahmen seines eigenen Projektes funktioniert der Datenstrom zum großen Teil in einem Fluss. Nur beim Zurückspielen der Daten vom 3D-Scanner in das Modell hängt die erfolgreiche Kommunikation momentan noch von der Scanner-Software ab. „Aber ich bin da dran. Ich habe verschiedene Studienprojekte, wo wir für die einzelnen Programmteile von Schritt zu Schritt kleine Konverter und Interfaces schreiben. Kleine Programme, die uns den Prozess vereinfachen und vereinheitlichen. Und wir werden dabei immer besser.“

Grund­lagen und Anwendung: Das Studium macht fit für die Zukunft

Werkstoffe prüfen, mathematische Modelle erstellen und Programmieren – die Digitalisierung der industriellen Produktion ist ein komplexes Feld, das vielfältige Herausforderungen für die Studierenden bereithält. Die Grundlage bildet dabei eine fundierte Ausbildung in Mathematik und Mechanik. Hinzu kommt das wissenschaftliche Programmieren. Mitbringen sollten die Studierenden daher Spaß an Zahlen. Und eine hohe Frustrationstoleranz, lacht Herbert Baaser: „Weil sowas erstmal schiefgeht. Auch bei mir heute noch. Ich schreibe heute keine Formel auf ein Blatt, die gleich fehlerfrei ist und schon gar nicht codiere ich sie sofort so, dass sie fehlerfrei ist. Das ist es, was ich meinen Studierenden immer sage. Ein Code ist schnell geschrieben – in zehn Minuten. Dann macht euch aber darauf gefasst, dass ihr vier Wochen lang einen Fehler darin sucht.“ Doch das lohnt sich: Laut Einschätzung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung haben besonders „Leute, die die digitale Welt mit der realen Welt in den Werkshallen zusammenbringen“2 gute Jobchancen in der digitalen Arbeitswelt von morgen.

„Ein Code ist schnell geschrieben [...] macht euch aber darauf gefasst, dass ihr vier Wochen lang einen Fehler darin sucht.“


Projektverantwortliche*r
  • Prof. Dr.-Ing. habil. Herbert Baaser (Baa) , Technische Mechanik
  • Prof. Dr. -Ing. Klaus Kiene (Kie) , Produktentwicklung, Fertigungstechnik

Projekte erarbeiten und Ideen umsetzen.

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