„Die Studie­renden lernen mit eigenen Händen heraus­zu­finden, ob eine Maßnahme tatsächlich für den Klima­schutz etwas bringt oder nicht.“

- Oleg Panferov | Professor TH Bingen


Klima­neu­trale Stadt

Utopien werden Wirklichkeit an der TH Bingen – Klimaschutz ist Pflicht

Die Temperaturen steigen, Starkregenereignisse nehmen zu – der Klimawandel wirkt sich unmittelbar auf unseren Alltag aus. Als drittes Jahr in Folge hat 2016 den globalen Temperaturrekord gebrochen. Die weltweite Durchschnittstemperatur liegt nach Angaben der Weltwetterorganisation etwa ein Grad Celsius über der der vorindustriellen Zeit. Um den Klimawandel aufzuhalten, hat Deutschland den Klimaschutzplan 2050 entwickelt: Die Treibhausgas-Emission soll um bis zu 95 Prozent reduziert werden und dafür unter anderem klimaneutrale Städte entstehen. Gleichzeitig müssen wir uns aber schon jetzt an die veränderten Wetterbedingungen anpassen. Damit diese Herkulesaufgaben gelingen, gibt es unterschiedliche Maßnahmen: die Optimierung des Verkehrs, die klimaeffiziente Sanierung von Gebäuden, die Nutzung erneuerbarer Energien sowie die Begrünung der Städte. Letztere kann nicht nur durch mehr Parks oder Grünflächen erfolgen, sondern auch mit Hilfe von Dach- und Fassadenbegrünungen. Ob und wie Gebäudebegrünungen effizient zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawandel beitragen können, untersucht ein interdisziplinäres Forschungsteam der TH Bingen.

Klima­schutz und Klima­an­passung mit inten­siver Dachbe­grünung

Das Projekt

Städtisches Grün ist mehr als nur Zierde – es spielt eine entscheidende Rolle für eine lebenswerte und klimafreundliche Stadt. „Theoretisch kann man durch eine Begrünung der Luft Kohlendioxid entziehen, denn Pflanzen betreiben Photosynthese. Gleichzeitig kann man das Mikroklima ein bisschen angenehmer machen – das heißt, abkühlen und befeuchten, da Pflanzen transpirieren“, beschreibt Professor Oleg Panferov den Grundgedanken. Die Forscherinnen und Forscher der TH Bingen wollen aber nicht nur diese kühlende und Kohlendioxid-absorbierende Wirkung untersuchen, sondern sämtliche Aspekte einer grünen Stadt der Zukunft. „Wie können Grünflächen die Folgen von Starkregen mildern?“ und „Erhöht sich die Artenvielfalt in der Stadt dank der Grünflächen?“, sind weitere zentrale Fragestellungen. Wichtig ist auch, die Effizienz von Gründächern zu erhöhen. „Bis jetzt ist es nicht bewiesen, dass die Pflanzen diese Effekte tatsächlich überall liefern. Es gibt Beweise pro und contra. Das bedeutet, dass man das immer vor Ort feststellen muss.“ Grundsätzlich gelte zwar: Je mehr Begrünung desto besser, jedoch kann sie auch negative Wirkungen haben, wenn der Wind beispielsweise gebremst wird. Weniger Wind bedeutet weniger Abkühlung und weniger Abtransport von Schadstoffen. Daher sind genaue Planungen und Untersuchungen nötig, um das Optimum für das jeweilige lokale Mikroklima zu bestimmen.

"Erhöht sich die Artenvielfalt in der Stadt dank der Grünflächen?"


Eine weitere Herausforderung: Bei einer intensiven Dachbegrünung müssen die Pflanzen bewässert werden. „Wenn man das mit Trinkwasser macht, dann ist es nicht nachhaltig und kostenintensiv. Also benutzt man am besten Regenwasser, für die Sammlung braucht man Container. Auf diese Art und Weise kann ich dann gleich mehrere Ziele erreichen: Ich kann Starkregenereignisse mildern, die Stadt wird dadurch gar nicht oder weniger überflutet, und gleichzeitig habe ich Wasser für meine Dachbegrünung.“ Um das Regenwasser möglichst klimaneutral auf das Dach zu pumpen, wird eine autarke Solar-Bewässerungsstation an der TH Bingen von Studierenden der Regenerativen Energiewirtschaft entwickelt und gebaut.

Städte spielen eine Schlüsselrolle

Städte spielen beim Klimaschutz in zweierlei Hinsicht eine besondere Rolle. Zum einen emittieren sie etwa 70 Prozent der gesamten Treibhausgase1. Zum anderen sind sie von den Folgen der Klimaerwärmung stärker betroffen als das Umland. Die hohe Bevölkerungsdichte, die Bebauung und der starke Versiegelungsgrad führt dazu, dass es in Städten bei bestimmten Wetterlagen bis zu zehn Grad Celsius wärmer wird als auf dem Land. Man nennt das den städtischen Wärmeinseleffekt. Besonders während Hitzewellen kann das zu gesundheitlichen Problemen bei der Bevölkerung führen. Und weil der versiegelte Boden das Wasser nicht aufnehmen kann, führt Starkregen in Städten schneller zu Überschwemmungen. Begrünungsmaßnahmen zahlen sich gleich mehrfach aus: Sie machen die Stadt nicht nur lebenswerter, sondern reduzieren die Temperaturen, erhöhen die Luftfeuchtigkeit, reinigen die Luft von Schadstoffen und bieten Schutz vor Überschwemmungen. Zudem sind Städte für die Erhaltung der biologischen Vielfalt verantwortlich. Unsere Kulturlandschaft, die überwiegend land- oder forstwirtschaftlich genutzt wird, bietet nur noch begrenzten Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Die Städte sind daher heute wesentlich artenreicher als die sie umgebenden Landschaften.

1 The Worldwatch Institute (Hg.): State of the World. Our Urban Future. New York (W.W. Norton & Company) 2007

Mitarbeiter bei der Wartung auf einem Windrad

„Intensiv heißt, die Pflanzen wachsen wirklich.“

Intensive vs. extensive Begrünung

Bei der Gebäudebegrünung wird zwischen intensiver und extensiver Begrünung unterschieden. Mehr als 80 Prozent der deutschen Dächer sind auf extensive Weise begrünt. Dabei wird meist Sedum als Pflanze eingesetzt, die „nicht so viel Wartung und nicht so viel Wasser brauchen.“ Jedoch ist ihr Klimavorteil gering. „Sedum macht wenig Photosynthese und Verdunstung. Deshalb kühlt es auch nicht so stark“, beschreibt Professor Panferov die Nachteile einer extensiven Begrünung. Mehr Aufwand, aber einen deutlich besseren Klimaausgleich verspricht die intensive Dachbegrünung. „Intensiv heißt, die Pflanzen wachsen wirklich. Es gibt eine Zunahme von Biomasse. Dafür braucht man einen dickeren Boden, mehr Wasser und mehr Nährstoffe“, erklärt der Professor für Klimaanpassung. Theoretisch können dann alle Pflanzen auf das Dach oder die Fassade gesetzt werden und „jeder einzelne Gebäudebesitzer kann für sich auswählen, ich möchte Erdbeeren oder doch lieber Zuckerrüben.“ Ein weiterer Vorteil der intensiven Begrünung ist die dickere Bodenschicht, die bei starkem Regen wesentlich mehr Wasser speichern kann und die biologische Vielfalt fördert.       

 
Die Zielsetzung

Häufig wird bei der Dachbegrünung nicht das volle Potential ausgeschöpft in Bezug auf den Klima- und Wasserschutz. Ziel der Forschung an der TH Bingen ist es deshalb „eine wirklich klimaneutrale und effiziente Gebäudebegrünung zu schaffen. Sie muss einerseits klimarelevant sein, das heißt das Klima abkühlen und Kohlendioxid einsparen. Andererseits darf sie nicht auf Trinkwasser-Ressourcen zurückgreifen und auch fossile Energie darf nicht genutzt werden. Sie muss wirklich wasser- und energieautark sein“, erklärt Professor Panferov. Die Bewässerung soll über Regenwasserspeicher gesichert werden. Das Regenwasser muss wiederum mit Hilfe nachhaltiger regenerativer Energien auf das Dach gepumpt werden: „Also muss man einplanen, ob es ausreichend Niederschlag beziehungsweise genug Sonnenschein oder Wind gibt, damit das funktioniert. Und genau diese Wechselwirkungen versuchen wir zu untersuchen, sodass alle Teile zueinander passen.“ Am Ende der interdisziplinären Forschung soll eine Pilotanlage all diese klimarelevanten Komponenten in Einklang bringen, um so dem Traum von der klimaneutralen und nachhaltigen Stadt ein Stück näher zu kommen.

begrünte Dachflächen und Solartankstelle
Das interdisziplinäre Vorgehen

Das interdisziplinäre Team evaluiert in einem ersten Schritt, welche Pflanzen für städtische Begrünungen geeignet sind. „Welche Pflanze betreibt ausreichend Photosynthese?“, „Welche verdunstet genug, um für eine Abkühlung zu sorgen?“ und „Welche Pflanze wächst ausreichend?“ – alle Fragen rund um die Pflanzenauswahl und die Förderung der biologischen Vielfalt untersucht Professorin Elke Hietel. Am Ende soll eine Art Katalog stehen, der die am besten geeigneten Pflanzenarten für bestimmte Standorte umfasst. In einem nächsten Schritt muss die Wasserversorgung der Pflanzen aus Regenwasser gesichert werden. Professorin Ute Rößner optimiert die Pflanzenbewässerung.

„Welche Pflanze betreibt ausreichend Photosynthese?“

 

Dabei spielen die Bodenauswahl und die Schichtdicke für das Gründach eine entscheidende Rolle. Professor Martin Pudlik untersucht gleichzeitig den Einsatz regenerativer Energie-Quellen, um das Regenwasser nachhaltig zum Dach zu pumpen. Ob der Gesamtkomplex tatsächlich das Klima schützt und eine kühlende Wirkung hat, betrachtet Professor Panferov. „Ich messe dann die mikroklimatischen Effekte sowie gleichzeitig den Kohlendioxid- und Methan-Austausch. Wenn wir feststellen und beweisen – ok, dieser Komplex, den wir aufgebaut haben, der funktioniert und er ermöglicht uns tatsächlich Klimaschutz und Klimaanpassung, er ist energie- und wasserautark – dann kann er überall angewendet werden.“

Entwicklungsstand

Die Hälfte der Arbeit ist geschafft. Vor anderthalb Jahren begannen die ersten Messungen und Experimente. „Genau da haben wir festgestellt, dass grüne Dächer nicht immer kühlend, sondern manchmal auch erwärmend auf das Klima wirken.“, erklärt Professor Panferov die Ausgangslage. Genauere Untersuchungen bezogen sich dann auf den Wasserrückhalt, den Einfluss auf das Mikroklima und die biologische Vielfalt. Dafür wurden ein Jahr lang normale Kiesdächer mit bepflanzten Garagendächern der TH Bingen verglichen. Die Ergebnisse waren gemischt: Die biologische Vielfalt hatte sich eindeutig erhöht, auch der Wasserrückhalt der begrünten Dächer war deutlich höher. Nur eindeutige klimatische Unterschiede konnte das Forscherteam auf den kleinen Garagendächern nicht feststellen. „Deshalb haben wir damals die Entscheidung getroffen, großskaligere Untersuchungen zu machen.“

Als nächstes wollen Professor Panferov und Professorin Rößner den Austausch von Kohlenstoffdioxid und Methan messen. Auf der weiteren Agenda stehen außerdem die Planung der idealen Bewässerung sowie weitere Experimente mit verschiedenen Pflanzen und der Bau der Solar-Bewässerungsanlage. Am Ende soll eine komplette Pilotanlage auf dem Heilig-Geist-Hospital in Bingen stehen. Doch Professor Panferov denkt schon jetzt in anderen Dimensionen: „In der Zukunft wollen wir das in größerem Maßstab machen. Wir wollen möglichst viele Gründächer und Fassadenbegrünungen in Bingen oder auch Mainz untersuchen. Das ist aber die Zukunft“.

Ein zukunft­s­träch­tiges Feld

Mit der Verpflichtung zum Klimaschutz wächst auch der Markt für grüne Technologien. Bis 2025 werden im Jahresdurchschnitt Wachstumsraten von bis zu 6,5 Prozent erwartet. Zugleich haben sich Bund und Länder zum Klimaschutz verpflichtet. Die im Klimaschutzgesetz von Rheinland-Pfalz beschlossenen Maßnahmen müssen in den kommenden Jahren umgesetzt werden. Daher bietet das Forschungsprojekt beteiligten Bachelor- und Masterstudierenden beste Chancen für den Berufsstart. Besonders im Bereich Ökobilanzierung und Gutachtertätigkeit sieht Professor Panferov ein künftiges Betätigungsfeld: „Die Studierenden lernen mit eigenen Händen herauszufinden, ob eine Maßnahme tatsächlich für den Klimaschutz etwas bringt oder nicht.“

Ein weiteres ausführliches Interview zu diesem Projekt können Sie auf der Webseite des Bundesumweltamtes lesen.


Projektverantwortliche*r
  • Prof. Dr. Oleg Panferov (Pan) , Klimawandel,Klimaschutz
  • Prof. Dr. Elke Hietel (Ht) , Landschaftspflege, Landschafts- und Stadtplanung
  • Prof. Dr.-Ing. Ute Rößner (Röß) , Wasser und Flächenrecycling, Geothermie
  • Prof. Dr. Martin Pudlik (Pm) , Regenerative Energiewirtschaft

Projekte erarbeiten und Ideen umsetzen.

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